Detaillierte Zukunftskonzepte
Interessant ist für die Unternehmen dabei nicht nur die Idee und die Technik der Zukunft an sich, sondern vor allem auch der Umgang des Menschen mit ihr. „Wenn Science-Fiction-Autoren ihren Beruf wirklich ernst nehmen, sind sie keine PR-Manager der neuen Technologien“, erläutert Le Blanc. „Sondern sie machen sich Gedanken, wie Menschen mit neuen Maschinen umgehen, was passiert, wenn Techniken versagen oder die neuen Geräte missbraucht werden.“ Die literarischen Texte erhalten auf diese Weise ihre Spannung, für die Auswertung bei „Future Life“ ergeben sich so Anregungen, was in den Forschungsabteilungen und Zukunftslaboratorien der Unternehmen noch bedacht werden muss.
Mit seinen Mitarbeitern erstellt Le Blanc so aus Tausenden von literarischen Texten detaillierte, branchenspezifische Zukunftskonzepte – alle basierend auf den Ideen der Science-Fiction-Autoren. „Was ich beschreibe, ist aber nicht nur die Technologie, sondern auch die damit einhergehende Veränderung in der Gesellschaft“, erzählt der Bibliothekschef. Tauche eine Idee bei mehreren Autoren auf, sei sie wahrscheinlicher als abseitige Einfälle, die nur einzelne Schriftsteller in ihren Romanen verwendet haben.
Szenarien für die Autoindustrie
Dabei ist eine Sache klar: Die Literatur ist ein Spiegel der Realität – und nirgendwo ist das offensichtlicher als bei der Revolution der Digitalisierung, die seit der Jahrtausendwende alle Bereiche der modernen Gesellschaft von Grund auf verändert. Auch in den Geschichten der weltweiten Gemeinde der Science-Fiction-Autoren ist die Zukunft digital – und zwar seit mehr als 50 Jahren. „Im sogenannten Goldenen Zeitalter der Zukunftsliteratur in den 1940er- und 50er-Jahren in den USA waren die beschriebenen Rechenmaschinen noch riesige Geräte, die in Kellern und Lagerhallen standen – und mit kilometerlangen Lochkartenstreifen bedient wurden“, erklärt Le Blanc. Die große Wende vollzog sich in den 1960er-Jahren mit der von Gene Roddenberry erdachten amerikanischen Fernsehserie „Raumschiff Enterprise“. „Von da an entwickelten die Autoren die Vorstellung von riesigen digitalen Datenmengen, die in viel größerem Rahmen gespeichert und mit verschiedenen Geräten vernetzt werden konnten“, sagt Le Blanc. Eben die Vorstellung, die nun die weltweite technologische Entwicklung bestimmt.
Viele dieser Ideen, die Schriftsteller aus der ganzen Welt seit den Tagen ersonnen haben, als das Raumschiff Enterprise erstmals aufbrach, um „neue Welten zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen“, sind in exakt den Datenbanken der Phantastischen Bibliothek verzeichnet – geordnet nach Kategorien wie Mobilität, Wohnen, Energieversorgung, Gesundheit, Nahrung oder Arbeitswelt.
Auf Grundlage der Daten hat Thomas Le Blanc zum Beispiel Szenarien für die Autoindustrie zum Thema Mobilität der Zukunft erarbeitet. Zu den Kunden gehört auch der drittgrößte Autozulieferer der Welt, ZF. Der Konzern aus Friedrichshafen am Bodensee hat für die Eröffnung seiner neuen Zentrale eine Präsentation über das Auto der nächsten Jahrzehnte bei Thomas Le Blanc bestellt. Die Automobilindustrie stelle aber auch die grundsätzliche Frage, ob es das Auto in der heutigen Form künftig überhaupt noch gibt. „Ich sage dann ja“, erzählt der Zukunftsforscher. „Aber es wird uns nicht mehr gehören: Roboterautos im Besitz von Carsharing-Firmen werden uns am Morgen abholen und abends wieder nach Hause bringen.“ Für die Industrie bedeute das, dass sie völlig neue Produkte entwickeln muss: Das Auto wird kein Statussymbol mehr sein, es braucht dann nicht mehr groß und schön zu sein, sondern nur noch sicher und praktisch.
Das Haus der Zukunft
Vor zwei Jahren bot die Phantastische Bibliothek für einen mittelständischen Bauunternehmer, der mehrere kleinere Handwerksfirmen übernommen hatte, eine Weiterbildung an, um die Mitarbeiter sensibel für die Trends des vernetzten Hauses zu machen. „Der Chef wollte von mir eine Vision, wie die Menschen in 30 Jahren leben werden“, erklärte Le Blanc. Und der Institutschef begann mit dem Handwerker zu arbeiten, indem er die literarischen Visionen mit der Wirklichkeit abglich. „Es ging um die Türen, die sich mit Augenabgleich und Fingerabdrücken und nur bei autorisierten Personen öffneten“, erzählt Le Blanc. „Um eine künstliche Intelligenz, die nicht nur Fenster, Heizung und Waschmaschine steuert, sondern auch einkauft und Putzroboter steuert.“
Für das hessische Wirtschaftsministerium hat Le Blanc vor zwei Jahren ein Dossier über Nanotechnologie erarbeitet – also aus Tausenden Büchern zusammengetragen, was Literaten über winzige Geräte und Instrumente mit großer Wirkung geschrieben haben. „Natürlich liefert Literatur keine fertigen Blaupausen“, erklärt Hessens Wirtschaftsminister Tarek al-Wazir, der die Studie in Auftrag gegeben hat. „Wohl aber kann sie Anstöße geben für neue Denkansätze und Herangehensweisen.“
Der Grund dafür, dass die moderne Gesellschaft viel von Sciene-Fic-tion-Autoren lernen kann, liegt in der Tatsache, dass die Literaten zumeist nicht einfach vor sich hin fabuliert haben. „So viele Autoren kommen aus der Forschung und Wissenschaften, sie haben die aktuellen Theorien ihrer Zeit zur Kenntnis genommen und an der Stelle zu erzählen begonnen, an der sie bei ihrer Forschungsarbeit nicht weiterkamen“, erläutert Thomas Le Blanc.
Motor Naturwissenschaften
Für einen der bekanntesten Physiker der Welt ist das der entscheidende Schlüssel zum Verständnis der Zukunft. Es gehe darum, „die grundlegenden Naturgesetze zu erkennen und diese dann auf Erfindungen, Maschinen und Therapien anzuwenden, die unsere Zivilisation weit in die Zukunft hinein neu definieren werden“, sagt Michio Kaku. Der US-Forscher gilt als einer der Väter der Stringtheorie, des Gedankengebäudes, das eine vereinheitlichende Theorie der Naturkräfte entwickeln will.
Dass Schriftsteller wie Jules Verne bei ihren Geschichten die Wirklichkeit oft sehr präszise vorausgesagt haben, wundert Kaku nicht. So habe Verne klar realisiert, dass die Naturwissenschaften der Motor waren, der die Fundamente der Zivilisation erschütterte. Im 1863 geschriebenen Zukunftsroman „Paris im 20.Jahrhundert“ beschreibt der Autor die französische Hauptstadt als Metropole mit verglasten Wolkenkratzern, Klimaanlagen und Fernsehern, mit Aufzügen, Hochgeschwindigkeitszügen und benzingetriebenen Automobilen.
Zwei Jahre später kommt Verne der Realität noch weit näher. In dem 1865 verfassten Roman „Von der Erde zum Mond“ beschreibt er detailliert die Reise, die US-Astronauten 1969 – also mehr als 100 Jahre später – auf den Mond brachte. „Er sagte die Größe der Raumkapsel bis auf wenige Prozent Abweichung präzise voraus, ebenso die Lage des Startplatzes in Florida nicht weit von Cape Canaveral, die Zahl der Astronauten der Mission, die Flugdauer, die Schwerelosigkeit, die die Astronauten erleben würden und schließlich die Landung im Wasser“, erläutert Kaku. Vernes größter Irrtum sei gewesen, dass er Schießpulver statt Flüssigtreibstoff benutzte, um die Rakete zum Mond zu bringen. Die Grundlage dieser Verne’schen Prognosen waren dabei Gespräche mit Wissenschaftlern, die Verne besuchte und nach ihren Visionen für die Zukunft befragte.
Die Realität ist oft schneller
In der Regel sind solche Visionen und die daraus resultierenden Geschichten über die Zukunft sogar weniger fantasievoll als die Wirklichkeit selbst. „Vorhersagen über die Zukunft haben, von wenigen Aussagen abgesehen, die Geschwindigkeit des technischen Fortschritts immer unterschätzt“, sagt Michio Kaku. Der Lieblingsbeweis des Starphysikers: „Raumschiff Enterprise“.
Als die ersten Folgen der Serie in den 1960er-Jahren zu sehen waren, staunten die Zuschauer über Handys, transportable Computer, sprechende Apparate und Maschinen, die gesprochene Wörter in Texte transkribieren konnten. Für den Schöpfer der Serie war das, so Kaku, die „Technologie des 23. Jahrhunderts“. Für die Besitzer eines Smartphones ist es in heutigen Zeiten Alltag.
Quelle:
http://www.schwaebische.de/wirtschaft/ak…d,10542306.html